Bei der Erklärung des Tierarztmangels stößt man immer wieder auf Glaubenssätze: Plausible Erklärungen, die aber nicht mit validen Daten hinterlegt sind.
Diesmal: Immer mehr Tierärzt:innen wandern aus der Praxis ab und arbeiten im Veterinäramt oder in der Industrie.
Dahinter steht die Botschaft: Die Praxis ist für die nachfolgenden Generationen nicht mehr attraktiv.
Doch stimmt das? Wenn nein, woher kommt dieses Gefühl einer ‚Abwanderung‘ sonst?
Vorab: Die statistische Aussage „immer mehr wandern ab“ stimmt nicht.
Seit 20 Jahren liegt das Verhältnis von Tierärzt:innen, die in der Praxis arbeiten, zu denen in anderen tierärztlichen Berufsfeldern konstant bei etwa 2:1. Das Kopfzahlwachstum der praktizierenden Tierärzte ist prozentual sogar ganz leicht höher (Grafik 1).
Betrachtet man den Zuwachs in der Praxis über 20 Jahre als Liniengrafik wird noch deutlicher sichtbar: Er ist gleichmäßiger und größer (Grafik 2 obere Linie ) als in den nicht-kurativen Arbeitsfeldern. Das Interesse der jungen Tierärzte in der Praxis zu arbeiten, hat sich also nicht verändert.
Fluktuation gab es schon immer
Richtig ist, dass in den ersten fünf Berufsjahren eine gewisse Fluktuation aus der Praxis in andere Bereiche erfolgt (siehe auch: Doktorarbeit von Maren Ewert / 2021 ). Diese ist aber über die Jahrzehnte ebenfalls weitestgehend konstant und hat somit keinen Einfluß auf den aktuellen Tierarztmangel.
Und: Ein Wechsel ins Veterinäramt ist in Teilen sogar erwünscht: Praxiserfahrung im Nutztierbereich war lange Voraussetzung für die Laufbahn als Amtstierarzt und ist auch heute dort gerne gesehen.
Veränderung: Weniger Inhaber – mehr Angestellte
Trotzdem ist das „Gefühl“ einer Veränderung berechtigt. Denn schaut man genauer in die Zahlen, dann werden zwei Faktoren sichtbar:
- Die Zahl der selbständig praktizierenden Tierärzten ist nahezu unverändert, über die letzten drei Jahre sogar wieder auf das Niveau von 2009 zurückgefallen (Grafik 4 ).
- Der statistische Zuwachs bei den praktizierenden Tierärzte entsteht zum allergrößten Teil allein durch mehr Angestellte in Praxen und Kliniken (Grafiken 3 + 4 ).
Zentraler Faktor: Der Frauenanteil
Ein noch genauerer Blick auf die Geschlechterverteilung (Grafik 4 ) zeigt:
- In der statistischen Gesamtbilanz ist sogar nur der Frauenanteil in den Praxen gestiegen (auf 69 % im Jahr 2022 ).
- Der Männeranteil geht von 57 % im Jahr 2002 kontinuierlich und unaufhaltsam zurück; aktuell (2022) liegt er bei 31 %.
- Von den wenigen Männern, die im Beruf nachrücken, zieht ebenfalls ein relevanter Teil das Angestelltenverhältnis vor.
- Seit 2016 gibt es bereits mehr Praxisinhaberinnen als Praxisinhaber. Trotzdem entfällt der allergrößte Teil des Nettowachstums der praktizierenden Tierärzt:innen allein auf die angestellten Frauen (hellgrün in der Grafik ).
Verwunderlich ist diese Geschlechterverteilung nicht: Seit gut zehn Jahren liegt der Frauenanteil unter den Veterinärmedizinstudierenden stets bei rund 88 Prozent. Der „Schwund“ der Männer wird sich also mit jedem Abschlussjahrgang weiter fortsetzen.
Die Zahl der Männer im Beruf wird außerdem mit dem Renteneintritt der großen Zahl der männlichen Praxisinhaber aus der Generation der Baby Boomer noch einmal deutlich fallen. Geschätzt betrifft das rd. 3.000 oder mehr Inhaber in den nächsten 10 bis 15 Jahren, genaue Altersstrukturdaten sind nicht frei verfügbar.
Die Konsequenz: Weniger verfügbare Arbeitszeit pro Tierärzt:in
Zwei Faktoren sorgen so dafür, dass es in der Tiermedizin bei statistisch zwar steigenden Tierarztzahlen dennoch weniger verfügbare Arbeitszeit pro Arbeitskraft gibt:
- Weniger selbständige Tierärzt:innen, dafür mehr angestellte Tierärzt:innen – das bedeutet im Praxisalltag eine Reduzierung der verfügbaren Arbeitszeit. Denn für Selbständige gilt keine Arbeitszeitbegrenzung; sie arbeiten als Unternehmer:innen oft deutlich mehr als 40 Wochenstunden. Für angestellte Tierärzt:innen gilt dagegen das Arbeitszeitgesetz mit der Stundenbegrenzung auf 40 / 48 Wochenstunden.
- Dazu kommt der Ausfall an (Lebens)Arbeitszeit durch Schwangerschaft / Mutterschutz und Familienphase. Mit ganz deutlicher Mehrheit nehmen die Mütter die Elternzeitmonate. Danach kehren viele Tierärztinnen in der Familienphase häufig zunächst nur in Teilzeit in den Beruf zurück.
Dieser „Teilzeitfaktor“ schlägt in einem ‚Frauenberuf‘ – und dahin entwickelt sich die Tiermedizin eindeutig – entsprechend deutlicher auf die verfügbare Arbeitszeit durch. Diese relative Arbeitszeitreduzierung durch das veränderte Geschlechterverhältnis trifft außerdem noch auf eine gestiegene Nachfrage nach tierärztlichen Leistungen – vor allem in der Kleintiermedizin.
Obwohl die absolute „Kopfzahl“ der praktizierenden Tierärzt:innen deutlich gestiegen ist (von 14.260 auf 22.680 über 20 Jahre), gibt es so einen echten Mangel an tierärztlicher Arbeitszeit.
Das Ergebnis
- Diese Art Tierarztmangel hat nichts mit einer „Abwanderung aus der Praxis“ oder „einer deutlich sinkenden Attraktivität der Praxis“ zu tun. Das grundsätzliche Interesse an der kurativen Praxis ist beim Nachwuchs unverändert.
- Die Zahl der selbständigen Praktiker wird aufgrund der momentanen Alterstruktur dennoch spürbar sinken – wenn es nicht gelingt, mehr angestellte Tierärzt:innen zu einer Praxisgründung / Praxisübernahme zu motivieren
- Es gibt aber bereits große regionale Unterschiede und vor allem ein spürbar nachlassendes Interesse an der Nutztierpraxis. Diese Entwicklung und deren Folgen wurde aktuel (2022) in einer Untersuchung für Bayern sehr gründlich herausgearbeitet. (Studiendownload als PDF hier)
Alle Daten: BTK / Deutsche Tierärztestatistik – © Grafiken: Jörg Held für den Dessauer Zukunftskreis – freie Nutzung bei ©-Angabe und VERLINKUNG auf tierarztmangel.de