Tagung Wörlitz 2 – September 2023

Plenum der 2. Tierarztmangel-Tagung des Dessauer Zukunftskreises im Eichenkranz zu Wörlitz – rund 60 Teilnehmer aus Tierärtzekammern, Verbänden, Praxis und Industrie – 28.9.2023

Sieben konkrete Maßnahmen wider den Tierarztmangel

Sieben Maßnahmen wider den Tierärztemangel haben rd. 60 Vertreter:innen der Veterinärbranche aus Kammern, Verbänden, Praxis und Industrie Ende September auf Einladung des Dessauer Zukunftskreises (DZK) in Wörlitz diskutiert – und konkrete Schritte auf den Weg gebracht. Keine Maßnahme wird allein den Tierarztmangel und damit eine angemessene tierärztliche Rund-um-die-Uhr-Versorgung der Haus- und Nutztiere sicherstellen können. Aber in der Addition könnten sie zügig umgesetzt bereits kurzfristig Verbesserungen bringen.
Ein Überblick:

Für den Notdienstberuf Tierarzt ist das enge Korsett des Arbeitszeitgesetzes mit acht bzw. in Ausnahmen zehn Stunden Arbeitszeit gefolgt von mindestens elf Stunden Ruhezeit absolut ungeeignet. Darüber herrscht Einigkeit. Doch der Weg zu einer Arbeitszeitflexibilisierung wird in der Branche – und so auch in Wörlitz – intensiv diskutiert.
Es gibt drei Ansätze, die zur Aufrechterhaltung eines flächendeckenden Notdienstes und zur Reduktion des Kliniksterbens zwingend notwendig  Flexibilisierung der tierärztlichen Arbeitszeit zu erreichen:

  • Eine gesetzliche verankerte Arbeitszeitflexibilisierung – dazu haben die Bundestierärztekammer (BTK), der Bundesverband praktizierender Tierärzte (bpt) und 16 Landestierärztekammern einen gemeinsamen Appell an die Politik gerichtet: sie möge das Arbeitszeitgesetz entsprechend zupassen = Lockerung der Tages-Höchstarbeitszeit bei unveränderter Wochenhöchstarbeitszeit.
  • Einen Ausnahmeantrag beim Gewerbeaufsichtsamt – diesen Weg müsste aber jeder Praxisstandorteinzeln gehen.
  • Ein Tarifvertrag für Tierärzt:innen – in diesem können die Tarifparteien Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz vereinbaren.  Das ist auch der in anderen Branchen (Humanmedizin) übliche Weg. Aktuell gibt es aber in der Tiermedizin keinen Arbeitgeberverband. Arbeitnehmer werden durch den Bund Angestellter Tierärzte vertreten.

Mehr Informationen zu den Lösungswegen in der Zusammenfassung der Ergebnisse der AG Arbeitsbedingungen / Notdienst (PDF Download) und den weiteren Ausführungen der AG Arbeitsbedingungen / Arbeitszeitflexibilisierung (PDF Download)

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ArbeitszeitArbeitszeitgesetzNotdienst

Die Rahmenbedingungen in der Tierarztpraxislandschaft verändern sich rasant. Bereits jetzt gibt es in sechs von 17 Landestierärztekammern weniger Praxisinhaber:innen als in den Praxen angestellte Tierärzt:innen. Darunter in großen Bundesländern wie Niedersachsen und NRW.
Spätestens 2024 wird sich das Zahlenverhältnis bundesweit umgekehrt haben und durch den Demographischen Wandel (Stichwort Baybboomer-Rente der Praxisinhaber:innen) deutlich zu Gunsten der Angestellten Tierärzt:innen verändern. Parallel wächst die Zahl der nichttierärztlichen Arbeitgeber (Corporates, auch Praxisketten genannt). Die steigende Nachfrage in Tierarztpraxen, kann momentan nur durch die stetig steigende Zahl angestellter Tierärzt:innen bedient werden.

Die Branche muss also eine Balance finden zwischen selbständiger Berufsausübung in Freier Praxis und verlässlich attraktiven Arbeitsbedingungen für die angestellten Tierärzt:innen. Die sind zu 82 Prozent (Stand 2022) weiblich und es gilt sie möglichst in Vollzeit im Beruf zu halten. Relevant sind hier Vergütung, (Arbeitszeit)Flexibilität, Kompetenzen, Wertschätzung und vieles mehr.

Ein Tarifvertrag könnte dies verbindlich machen. Er regelt dann Arbeitszeiten und weitere Arbeitsbedingungen, zum Beispiel Gehalt und Überstundenvergütung, Urlaubstage und Teilzeitfragen. Viele Praxisinhaber:innen fremdeln aber noch mit diesem Weg.

Mehr Informationen in der Zusammenfassung der Ergebnisse der AG Arbeitsbedingungen (PDF Download) und den weiteren Ausführungen der AG Arbeitsbedingungen / Arbeitszeitflexibilisierung (PDF Download)

Wie groß die Zahl potentieller Wiedereinsteiger:innen tatsächlich ist, weiß niemand genau. Je nach Datenlesart gibt es ein Potential von 2.000 bis 4.000 approbierten Tierärzt:innen, die zumindest zeitweise dem Beruf den Rücken gekehrt haben. Möglichst viele zurückzugewinnen und künftig im Beruf zu halten, ist ein vergleichsweise „einfacher“ Weg, den Tierärztemangel zu bremsen – und zugleich eine kontinuierliche Aufgabe. Denn bei einem Frauenanteil unter den Tiermedizinstudierenden von rd. 88 Prozent waren in den vergangenen zehn Jahren jährlich zwischen 800 und 900 Tierärztinnen in Elternzeit. Ihnen können und sollten die Arbeitgebenden bedarfsgerechte Rückkehrangebote in und nach der Familienphase machen.
Stichworte sind: Attraktives Einkommen als Grundlage für die Entscheidung weiter im Beruf zu bleiben; die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch verlässliche, kompatible Arbeitszeiten sowie eine verfügbare Kinderbetreuung und eine generelle Wertschätzung von Care Arbeit. Auch ein Tarifvertrag könnte die nötige Motivation und Sicherheit geben, wieder in den Beruf einzusteigen.
Im ersten Schritt sollte die Branche das Informationsangebot für „Wiedereinsteigerinnen“ und ihre Arbeitgebenden verbessern, indem sie Informationen über bestehende Angebote (z.B. Wiedereinsteigerkurse / FAQ „Wie gelingt der Wiedereinstieg“) zentral bereitstellt. Außerdem gilt es die Datenlage über die Zielgruppe zu verbessern und ggf. direkte Ansprachemöglichkeiten über die Kammern zu schaffen. Genauso wichtig ist es, dass der Kontakt der Arbeitgebenden zu den Mitarbeiterinnen während der Elternpause gar nicht erst verloren geht.

Mehr Informationen in der Zusammenfassung der Ergebnisse der AG Wiedereinsteiger (PDF Download)

Eine weitere, unmittelbar für den Arbeitsmarkt verfügbare Gruppe, sind Tierärzt:innen aus dem (europäischen) Ausland. Im neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz (2023) ist die Tiermedizin jetzt offiziell als „Mangelberuf“ eingestuft. Als solcher soll sie von schnelleren Zulassungsverfahren ausländischer Berufsträger profitieren können. Doch in der Realität ist selbst für EU-Tierärzte, die eigentlich Niederlassungsfreiheit genießen, der Weg zur Berufsausübung in Deutschland keineswegs einfach: Unterschiedliche Anlaufstellen in 16 Bundesländern, intransparente und zum Teil unnötig lange Verfahren, schrecken Interessenten ab.

Die DZK-Arbeitsgruppe „Fachkräfteintegration“ hat diese Missstände benannt und empfiehlt dringend eine zentrale Anlaufstelle einzurichten, die mehrsprachig(!) Wege durch den Behördendschungel aufzeigt. Notwendig ist auch ein bundeseinheitliches Verfahren für die Kenntnisprüfungen, die von Nicht-EU-Tierärzt:innen zur Erlangung der Approbation abzulegen sind.
Die Webseite VetWorkGermany.com stellt entsprechende Informationen in Deutsch und Englisch zur Verfügung. Mitglieder des DZK haben außerdem bereits die Projekte support4vetmed.de (Vorbereitung auf die Approbationsprüfungen für Tierärzt:innen aus Drittländern) und deutschkurs-tieraerzte.com mitentwickelt.
Denn die Sprachhürde ist ein große Hindernis für ausländische Tierärzt:innen. Momentan ist zur Kenntnisprüfung und Berufsausübung das Sprachniveau ‚Deutsch B2‘ verpflichtend. Hier sollte ‚Englisch B2’ als gleichwertig anerkannt werden. Das würde Deutschland auch im Wettbewerb mit anderen Ländern gleichsetzen.

Aktueller Bericht mit Hintergründen zur Fachkräfteintegration im Praktischen Tierarzt – Ausgabe 9/2023

Gleich drei Berufsgruppen können von erweiterten Kompetenzen für TFA profitieren:

  • Die Tiermedizinischen Fachangestellten selbst, weil es ihnen neue Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung eröffnet. Denn auch dort gibt es einen Fachkräftemangel, zu viele TFA verlassen Beruf.
  • Ein neu geschaffenes Berufsbild „Praxismanager:innen“ (PM) böte ene weitere Perspektive für organosatorisch und betriebswirtschaftlich interessierte Mitarbeiter:innen.
  • Und die Tierärzt:innen in den Praxen. Bei ihnen wird Arbeitszeit frei, wenn TFA mehr Aufgaben übernehmen (dürfen) und sie in Organisation und Verwaltung der Tierarztpraxen/-kliniken entlastet werden .

Deshalb gilt es kurzfristig die (bestehenden) Aufstiegsfortbildungen und Weiterbildungen bekannter zu machen. Außerdem sollten die Anbieter vernetzt werden und an gemeinsamen Curricula und Standards arbeiten.
Auch der von bpt und dem Verband der Medizinischen Fachangestellten erarbeitete neue „Delegationsrahmen“ muss bekannter und angewandt werden.
Außerdem sollte die zuletzt 2006 überarbeitete Ausbildungsordnung der TFA modernisiert und an die aktuellen Berufsanforderungen angepasst werden.

Für die berufliche Weiterentwicklung bieten sich zwei Wege an:

  • Einer – insbesondere die Aufsteigsfortbildungen – zielt auf breitere medizinische Einsatzgebiete und eine bessere Vergütung für TFA.
  • Der andere eröffnet Wege ins Praxismanagement. Dazu hat sich in Deutschland der Bundesverband Tiermedizinisches Praxismanagement (TPM) gegründet. Er will das neue Berufsbild definieren und etablieren.
  • Beide Wege der Kompetenzerweiterung für TFA werden aktuell besonders in Großbritannien und den USA aktiv vorangetrieben.

Mehr Informationen in der Zusammenfassung der Ergebnisse der AG Kompetenzen für TFA und Praxismanager:innen (PDF Download)

Mit den vorhandenen tierärztlichen Strukturdaten (u.a. Deutsche Tierärztestatistik) lässt sich die tatsächliche „Versorgungslage“ in Deutschland nicht abbilden. Um den entsprechenden Bedarf an Tierärzt:innen in Zukunft zu kennen bzw. besser abschätzen zu können, müssen mehr Daten zur Verfügung stehen. Hier sind die Tierärztekammern gefordert, bei ihnen vorhandene Daten (z.B. Alterstruktur der Tierärzteschaft) genauer auszuwerten und ggf. neue Daten zu erheben (z.B. Umfang der Teilzeitarbeit / regionale Abdeckung nach Tierart).
Parallel wird der DZK ein Konzept für einen „Tierärzteatlas“ vorlegen, in dem mit Unterstützung aus der Branche die bereits jetzt verfügbaren Daten attraktiver und aussagekräftiger aufbereitet werden. Das Projekt orientiert sich am französischen „Atlas Demographique de la Profession Vétérinaire“.

Es gibt viele Interessenten für das Tiermedizinstudium. Dennoch ist eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit nötig, die ein realistisches Bild des tierärztlichen Berufs mit all seinen Höhen und auch Tiefen abbildet, um die „richtigen“ Bewerber:innen für das Studium anzusprechen. Dazu wurde die Webseite www.beruftierarzt.de eingerichtet. Ein gleichnamiger Instagram-Kanal ist Vorbereitung.
Der DZK lädt Kolleginnen und Kollegen aus allen tierärztlichen Berufsfeldern ein, beide Formate mit Leben zu füllen, in dem sie Situationen und Eindrücke aus dem Berufsalltag beisteuern (Texte, Videos, Audio-Snipets – kontakt@dessauer-zukunftskreis.de).
Für die professionelle Betreuung der Kanäle ist jedoch perspektivisch die Einbindung eines professionellen Dienstleisters notwendig. Dies müsste entsprechend finanziert werden.

Mehr Informationen in der Zusammenfassung der Ergebnisse der AG Öffentlichkeitsarbeit (PDF Download)

Ausgezeichnet haben das Treffen nicht nur die gut vorbereiteten und aufgearbeiteten Inhalte und die fruchtbaren Diskussionen, sondern auch die freundlich-konstruktive Stimmung, mit der sich alle Beteiligten begegnet sind. Einmal mehr wurde deutlich, wie ernst die Lage und wie groß bereits teilweise die Versorgungslücken durch Tierärzt:innen in Deutschland sind und in absehbarer Zeit noch werden.
Klar ist: Es müssen Lösungen her und zwar möglichst rasch, um auch weiterhin dem Staatsziel Tierschutz durch eine angemessene tierärztliche Versorgung der Haus- und Nutztiere und zwar bei Tag und bei Nacht, gewährleisten zu können. Aber nicht nur im kurativen Bereich besteht ein Mangel an Tierärzt:innen. Dies betrifft auch den Öffentlichen Dienst mit der Lebensmittelsicherheit und dem Tierschutz sowie den Bereich Lehre und Forschung.